kunstvollaltern und lebenskunstvollsterben

unterstützt Höhen und Tiefen kunstvollen Alterns mit Fantasie, Fotografie, Poesie, Clownerie

virtuelle Krisenintervention mit einer Therapeutin

Entscheidungsfreiheit?

Guten Tag, hier bin ich also mit meinen ersten Gedanken, die ich gerne mit "Ihnen" teilen möchte:

Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob meine hochbetagte Mutter noch selbständig entscheiden kann. Offiziell bin ich ihre Betreuerin, aber heißt das gleich, dass ich, moralisch gesehen, ihr aufdrücken kann oder muss, was ich möchte?

Konkret : Sie müsste ins Krankenhaus, will aber nicht. Ich glaube, dass sie die Mitteilung über die Konsequenzen einer Nichtbehandlung verstanden hat. Sie hat verstanden, dass sie dann sterben wird. Sie ist damit einverstanden, hat aber am nächsten Tag den ganzen Disput vergessen. Ihre Grundhaltung: Hochneurotische Angst vorm Krankenhaus, Panik vor jeder unüberschaubaren Situation und chronische melancholische Verstimmungen (immer schon). Über diese seelischen Belange kann ich mit ihrer Hausärztin nicht reden.

Meine inneren Bedenken :

Obwohl ich durchaus in der Lage bin, Entscheidungen zu treffen, möchte ich meine Mutter nicht bevormunden. Das entspricht nicht meinem ethischen Verständnis. Muss ich einen Menschen zu seinem "Glück" zwingen? Nein, weil niemand beurteilen kann, was ihr Glück ist und ob sie selbst die Tragweite erfassen kann oder nicht?

Sie sehen, ich habe bereits eine Haltung dazu, aber niemand in unserem Umfeld will oder kann mir gedanklich folgen. Das macht mich einsam und unsicher. Im Augenblick neige ich dazu, die Dinge einfach laufen zu lassen und mich der Übermacht "der lebenserhaltenden Maßnahmen um jeden Preis" wider eigenes Bedenken, unterzuordnen.

Das ist eine existenzielle Frage, die ich nur selbst beantworten und dafür die Verantwortung übernehmen muss. Ich wünsche mir jedoch sehr einen Menschen, die/der diese "Grübeleien" nicht einfach in den Müllsack steckt, weil praktische Dinge so viel wichtiger sind. Gibt es bei Ihnen solche Menschen?

Diese Form, sich im Internet zu begegnen, gefällt mir gut. Ich schreibe gerne, weil ich mich dann nicht im Schwatzen verliere. Ein Austausch fehlt mir sehr. Gleichwohl bin ich gern allein mit meinen eigenen vielfältigen Beschäftigungen.

Das Miteinander mit meiner Mutter gestaltet sich meistens friedlich, dank einer gehörigen Portion Diplomatie. Diese Stille um uns zwei ist manchmal so voller Leben, das es ein Genuss ist.

Gestern hatte ich drei Stunden "Ausgang", die Sonne schien und ich war glücklich über das Glück, das ich empfand. Es verschwindet jedoch oft schnell in einer überwältigenden Erschöpfung.

Ich hoffe, ich habe Sie nicht gelangweilt und wünsche mir sehr eine Antwort, eine Träne im Auge zeigt mir, wie sehr.

HannaElise



Liebe HannaElise,

vielen Dank für Ihre Nachricht. Mein Name ist Kristina, ich bin Psychologin und antworte Ihnen gerne.

Ihre Zeilen haben mich beim Lesen sehr nachdenklich gemacht, denn Ihre Fragen und Gedanken sind in der Tat keine „praktischen Fragen“, sondern Fragen an das Leben, Fragen moralischer und ethischer Natur, und Fragen, auf die es keine eindeutige Antwort gibt. Sehr gerne denke ich mit Ihnen gemeinsam nach, welchen Weg Sie für sich gehen können, und suche mit Ihnen nach Antworten, die Ihnen vielleicht helfen, eine Entscheidung bezüglich Ihrer Mutter treffen zu können. Wenn Sie mögen, dann können wir in den nächsten 5-8 Wochen im Mail Kontakt sein. Eine Antwort erhalten Sie dann immer von mir und immer innerhalb von einer Woche. Haben Sie daran Interesse?

Als ich Ihre Zeilen las, war ich nachdenklich aber auch sehr berührt, weil aus Ihren Worte Wärme, Zuneigung und sehr viel Mitgefühl für Ihre Mutter sprechen. Auch wie Sie Ihr gemeinsames Miteinander beschreiben hört sich für mich so an, als hätten Sie einen sehr friedlichen Weg gefunden zusammen zu leben. Stimmt da mein Eindruck?
Was mich aber aufhorchen lies war einer Ihre letzten Sätze, Sie schreiben, dass der Glücksmoment oft schnell verschwindet und eine überwältigende Erschöpfung sich breit macht. Ich kann dies sehr gut verstehen, denn aus meiner Erfahrung hier bei pflegen-und-leben.de weiß ich von sehr vielen pflegenden Angehörigen, dass die Pflege und Verantwortung für einen Angehörigen neben allem Schönen auch sehr belastend sein kann und viele Menschen davon sehr erschöpft sind. Wenn Sie mögen, dann können wir uns in den nächsten Wochen auch gerne zusätzlich darüber austauschen, was Sie vielleicht brauchen, damit es Ihnen selbst auch ein wenig besser geht, und Sie sich weniger erschöpft fühlen. Was halten Sie davon?

Heute aber möchte ich nun auf Ihre Gedanken zum Thema Betreuung und Entscheidung eingehen, bevor ich Ihnen aber meine Gedanken dazu aufschreibe möchte ich Ihnen vorher noch zurückmelden, dass ich Ihre Fragen bezüglich der Entscheidung des Krankenhausaufenthaltes Ihrer Mutter sehr verantwortungsvoll finde und auch sehr respektvoll dem Willen und dem Wunsch Ihrer Mutter gegenüber. Sie fragen sich, ob Sie bestimmen dürfen und beurteilen können, was „Glück“ bedeutet und ob Sie Ihre Mutter zu ihrem „Glück“ zwingen müssen/dürfen? Und geben sich selbst die Antwort – Nein, schreiben Sie, niemand kann beurteilen, was das individuelle Glück des Einzelnen ist.
Liebe HannaElise, ich sehe dies genauso wie Sie, niemand kann beurteilen, was das individuelle Glück ist und jeder muss das in seinem Leben für sich selbst herausfinden. Sie sind aber nun in einer echten Dilemma Situation, weil Sie die Betreuerin Ihrer Mutter sind, und die Aufgabe haben, zu entscheiden, was das Glück Ihrer Mutter sein könnte und Sie nicht genau wissen, ob Ihre Mutter noch selbständig darüber entscheiden kann. Das macht die Situation einfach kompliziert, und es ist nicht mehr so einfach zu beurteilen, ob und wann Sie Ihre Mutter zu ihrem „Glück“ zwingen müssen oder nicht.

Und so kann ich auch sehr gut verstehen, dass Sie im Moment dazu neigen, einfach die Dinge laufen zu lassen, keine Entscheidung zu treffen, und sich den „lebenserhaltenden Maßnahmen“ unterzuordnen. Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann wollen Sie das ja eigentlich nicht, weder die Dinge laufen lassen, noch gegen den Willen Ihrer Mutter diese Maßnahmen anordnen.

Wie können Sie dieses Dilemma nun auflösen? Oder können Sie das überhaupt auflösen? Ich bin mir darüber selbst nicht sicher, aber ich habe mir überlegt, ob es für Sie vielleicht eine Entlastung sein könnte, wirklich fachliche Auskunft über die Rechtslage zu erhalten. Also Informationen darüber, ob Sie dazu verpflichtet sind als Betreuerin Ihrer Mutter, sie gegen ihren Willen in ein Krankenhaus zu bringen. Und auch, was es bedeuten könnte, wenn Sie dies nicht tun. Und vielleicht auch, welche Möglichkeiten es noch gibt, ich denke da z.B. an eine Patientenverfügung. Besteht diese, oder kann man diese vielleicht noch anfertigen? Ich selbst bin keine Juristin und weiß deswegen diese Antworten nicht, aber was denken Sie, würde Ihnen so eine Auskunft vielleicht ein wenig in Ihrer Entscheidungsfindung weiterhelfen?
Ich habe für Sie recherchiert und einen Betreuungsverein in Bremen gefunden, der Beratung für Betreuer anbietet. Unter http://www.inneremission-bremen.de/fileadmin/Downloads/Sonstiges/Verfuegung_Ansicht_neu.pdf finden Sie deren Angebot und Adresse.

Liebe HannaElise, für heute bin ich nun erst einmal am Ende meiner Mail angekommen. Ich bin mir im Moment nicht ganz sicher, ob Sie sich diese Art der Antwort erhofft haben, oder doch vielleicht etwas ganz anderes? Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mir wieder schreiben würden und mir Ihre Gedanken zu meinen Zeilen mitteilen.

Ich wünsche Ihnen nun für heute alles Gute und viel Kraft in dieser schweren Zeit,
mit herzlichen Grüßen
Ihre Kristina




Liebe Kristina,
so eine ausführliche Antwort! Ganz, ganz lieben Dank. Die Achtsamkeitsschulung scheint bei Ihnen dicke, bunte, saftige Früchte zu tragen. (lach).
Die Bücher von Irvin Yalom werde ich mir gleich bestellen, danke für den Tipp.
Zur Mutterbeziehung hänge ich am Ende eine kleine autobiografische Geschichte an.
Das Projekt, "Demenz anders sehen" kenne ich, kann dort aber nicht teilnehmen, weil ich mich entschlossen habe, (das ist jetzt ganz neu) meine Mutter in die Demenzabteilung einer Einrichtung zu geben. Geschwister oder andere Verwandte, mit denen ich die Pflege teilen könnte, habe ich nicht.
Meine "gebrauchsphilosophischen Ergüsse" (so nenne ich das "Grübeln über die Absurditäten des Lebens und des Todes" allgemein und meine im besonderen) pflege ich, seitdem ich aus dem Berufsleben offiziell ausgeschieden bin. Sie finden einiges davon bei Interesse in meiner/unserer (meiner Lebensfreundin und mir) webside www.kunstvollaltern.de. Sind Sie eine Frau, die verstehen kann, dass mich gute Ratschläge wie : betätige dich doch ehrenamtlich, geh kaffeetesieren und klönen,....., dann bist du nicht einsam, nerven, aber auch unsicher in meiner Lebensführung machen? In meinem Lebensumfeld bin ich so langsam zu einem skurielen Menschen geworden, den keiner mehr so richtig versteht. Aber darum geht es gar nicht, ich bin nicht einsam. Ich bin allein und je älter ich werde, mit größter stiller Freude. In mir drin ist ein kreativer Reichtum, dem ich mich immer wieder gerne widme. Dass das äußerst kompatibel mit der Pflege meiner Mutter ist, ist vielleicht nicht ganz zufällig.

Privat Menschen aus dem Weg zu gehen, mich auf der Bühne (Theater - und Lebensbühne) ganz zu verschenken, haben zwar meine narzisstischen Neigungen gestreichelt, aber der tiefe Wunsch, "Mama und die Welt möge mich doch in all meinen Facetten sehen, verstehen und sogar lieben", ist nicht zu erfüllen. Natürlich weiß ich das, so werde ich wohl ein ewig hungriges Kind bleiben.Aber daneben steht auch eine Frau, die ihr Leben mit extremen Höhen und Tiefen ( 2 Söhne, der jüngere schizophren, in den 90igern,((Mama ist immer schuldig,)) eine sich öffnende Psychiatrie mit all ihrem Chaos,Oma mischt sich in alles ein und ich lasse es zu) meistert und es zu einer Provinzkarriere als Künstlerin gebracht hat.

Weshalb schreibe ich das alles? Es ist alles vorbei, ich habe es gut verarbeitet und bin, bis ich mit Mutters Pflege begann, eine zufriedene,fröhliche Frau gewesen, lebe gerne mit meiner Freundin zusammen und halte mir Oberflächlichkeiten und dummes Gequatsche vom Leibe. Bitte nicht missverstehen, ich liebe Menschen und finde immer anderes und neues an ihnen, manchmal sogar in ihnen. Aber, um es in einem Bild zu sagen : Ich sitze gemütlich, neugierig aber sicher im Strassencafe und lasse sie vorbeiflanieren.

Grandiose Gesten und eine tiefe ganz persönliche Schüchternheit und Scham gehören zu mir, so dass das Leben oft sehr anstrengend ist, auch, wenn es ganz normal verläuft, was ja oft genug vorkommt (kicher)

Jetzt, in diesem Moment also der " Istzustand":

Mutter geht am 1. April ins "Heim" (was für ein Wort,ohgoddegott)

Meine künstlerische Laufbahn habe ich im Außen mit vielen inneren Schmerzen beendet. Das Anbiedern auf dem heutigen Kunstmarkt widert mich an. Nun bin ich also in Kürze eine alte Frau ohne Aufgabe, die nicht mehr laut in die Welt schreit : "Ich bin....dies und das,seht hin, bin ich nicht großartig oder, wenn das schon nicht, dann wenigstens das Nichtigste vom Nichts.
Narziss lässt grüßen.

Ich will keine Aufgabe im Außen mehr. Ich will mir selbst meine Lebensaufgabe sein, ohne Narzissmus, ohne Pathos und Schnickschnack. Es fühlt sich an, wie ein endgültiger Untergang. Jeder Neuanfang fühlt sich so an, aber ich bin 68 Jahre!

Und jetzt will ich dasitzen und warten, was auf mich von selbst zukommt....und wenn nichts kommt? Das kann nicht sein, sagt die erfahrene Clownin in mir, es kommt immer was....Jetzt ist da jedenfalls ein Loch und eine, in neugierigem Empfangen ungeübte "Macherin". Es ist eine tiefsitzende Angst, eine Niemandin zu sein. Aber warum nicht? Laotse sagt: gut geht, wer ohne Spuren geht. Der hat gut reden!!!!

Es scheint mir,diese innere Auseinandersetzung findet mit Ihrer Aufmerksamkeit und Ihren Impulsen zu einem offenen Scheunentor. Helfen Sie mir noch ein paar Briefchen lang, die Tür nicht gleich wieder zuzuschlagen? Natürlich besuche ich Mutter weiterhin, aber es scheint mir, ich höre irgendwie auf, Tochter zu sein, aber auch die Mutter meiner Mutter.

Hier noch die Geschichte von "Mutti Haar", wenn es nicht zu viel ist und Sie mögen :

Muttis Haar


Mutti - , einen winzigen Moment lang zögert dieses Wort immer im Kopf, bevor es etwas verschämt über meine Lippen schlüpft. Kann eine alternde Frau ihre eigene, fast neunzigjährige Mutter noch so ansprechen? Ist es ein psychologisches Zeichen von unerfülltem Wunschdenken oder schlicht ein Ausdruck von Zärtlichkeit?
Nie bin ich auf die Idee gekommen, die Freundin meiner Mutter werden zu wollen und sie mit dem Vornamen anzusprechen. Auch bin ich ihr gegenüber nicht erwachsen genug gewesen, um sie in „Mutter“ umzubenennen. Vor der Fremdheit solcher Veränderungen habe ich mich gefürchtet.
Niemals habe ich mit ihr darüber ein Mutter – Tochter Gespräch geführt.
Sie blieb und bleibt also Mutti.

Zurück zu ihrem Haar.

Muttis Haar ist eine unerschöpfliche Quelle ihrer Scham. Ihr Haar ist rot, wie das ihres Vaters. Nicht etwa kupferrot und dicht – lockig fallend mit langen rassigen Beinen darunter, sondern rötlich blass und dünn. Mit ein wenig Schadenfreude bemerkt sie allerdings, daß die feinen Dauerwell – Löckchen ihrer jüngeren Schwester eindeutig röter sind.
Mein Großvater hieß im Dorf „ de rode Foss“. Man munkelte, er sei Kommunist oder mindestens Sozialist, was im zweiten Weltkrieg ein Todesurteil werden konnte. Oder waren es doch nur die roten Haare?
Er hatte nach dem ersten Weltkrieg irgendwie den Anschluss verloren und drehte unter der Oberaufsicht seines Bruders die Schranken im Bahnwärterhäuschen rauf und runter. Ob er so sehr darunter litt, dass er an manchem Freitag, wenn es Bares auf die Hand gab, mit seinen Kollegen solange feierte, bis seine Frau und seine Töchter ihn weinend und oft des Lebens müde im Straßengraben fanden?
Rote Haare sind also die Quelle allen Unglücks, das lernte meine Mutter, zumal man in den zwanziger und dreißiger Jahren auch in der Schule deswegen gehänselt wurde. Rothaarige Menschen schienen unberechenbar, jähzornig, wankelmütig und besonders für Männer sehr gefährlich; Hexen eben, auch wenn alle Vermutungen nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurden. Man konnte ja nie wirklich wissen, ob da nicht doch irgendwelche besonderen Kräfte am Werk waren.
Irgendwann berührte auch ich Muttis Haar. Ich weiß nicht mehr, wann es begann.


Es war früher Sonntagnachmittag. Papa lag nach dem Mittagessen auf dem Sofa und träumte.
Die Hitze unseres Küchenherdes begann langsam zu verblassen. Das Ofenrohr glühte nicht mehr. Die Abwaschschüsseln und das trockene Sonntagsgeschirr verschwanden in der Vitrine und das silberne Besteck in der Schublade unter der weiß - geplätteten Tischdecke.
Um zwei Uhr durfte ich die Kinderstunde in unserem Volksempfänger hören. Feierlich, in meinem selbst gestrickten Kostümchen, saß ich ganz dicht davor. Ich tauchte in das grün leuchtende magische Auge des Apparates und verschlang die Geschichten, die aus dem Stofffetzen vor dem Lautsprecher sprudelten.
Und dann war es soweit. Mutti saß auf ihrem Küchenstuhl, aus dem Radio tönte jetzt leise Operettenmusik und der Wasserkessel sang dazu vor sich hin.
Und jetzt durfte ich ihre Haare kämmen. Dünn und rötlich waren sie normalerweise am Nacken zusammengebunden und mit einem künstlichen Knoten aufgepeppt. Aber jetzt durfte ich behutsam dieses Haarteil lösen und berührte schüchtern zärtlich ein dünnes ganz verlorenes Schwänzchen.
.
Vorsichtig strich ich mit einem Kamm über ihren Kopf. Es wurde ganz still um uns beide. Ich sah, wie sie heimlich für einen ganz kurzen Moment die Augen schloss, sich hingebend an meine streichelnden Hände; nur einen winzigen Augenblick lang. Dann war es vorbei. Energisch strich sie die Schürze glatt, setzte sich sehr gerade auf und strickte weiter. Nun war es auch genug, verlegen nestelte sie an ihrem Wollknäuel und stand unruhig auf, um die Gelatine auf die Obsttorte zu streichen.

Später dann wurden meine Finger geschickter und rollten freitags nach der Schule die Lockenwickler in ihre Dauerwelle. Der Knoten war aus der Mode gekommen.
Am Wochenende hatte das Haar zu sitzen, da gab es keine Nachlässigkeiten. Und damit begann für viele Jahre lang meine Aufgabe.
Ich rollte und rollte, die Wickler wurden ausgetauscht, wenn sie verbraucht waren, ich nicht.
Mit sechzehn war ich zornig, mit dreiundzwanzig ergab ich mich. Der Freitag durfte mal ein Samstag werden, aber spätestens Sonntagmittag hatten die Haare zu sitzen. Warme Zärtlichkeiten waren den Nachmittagen in meiner eigenen kleinen Familie vorbehalten, im Haus nebenan.
Meine Finger wurden langsam zu Klauen und rissen an der spärlichen Röte. Zorn floss in den klebrigen Haarfestiger. Hilflose Ungeduld föhnte die Luft um uns.

Und dann traute sich mein Nein, erst innen, dann außen.
Eine ganze Weile zerrten wir beide daran.
Als sich ein Grau in das Rot schlich, ließ meine Mutter endlich fremde Hände an ihre ewigrote Schamhaftigkeit. Gebeugt ergab nun sie sich und ihr Haar wurde weiß und brüchig.
Heute trägt sie einen praktischen Kurzhaarschnitt, der wenig Pflege braucht. Sie wäscht es immer noch selbst, auch wenn das Heben der Arme mühevoll ist. Manchmal schneide ich kleine Fussel aus ihrem Nacken .Er schimmert immer noch jugendlich schlank. Was würde geschehen, wenn ich zärtlich darüber streichen würde? Wird mir auch morgen der Mut dazu fehlen?

Irgendwann werde ich ein letztes Mal ihr Haar kämmen, unwiderruflich und zärtlich.

Ich freue mich, von Ihnen zu hören, liebe Kristina
HannaElise





Liebe HannaElise,

vielen Dank für Ihre vielen Zeilen! Ich freue mich sehr, dass Sie dieses schriftliche Beratungsangebot so gut für sich nutzen können und nein, Sie sprengen nicht den Rahmen mit Ihren Nachrichten. Sie dürfen schreiben so viel Sie möchten und so wie es Ihnen gut tut. Und ich antworte Ihnen darauf einmal in der Woche. Wahrscheinlich kann ich nicht auf alle Ihre Gedanken eingehen, aber ich hatte das Gefühl, dass Sie das auch nicht erwarten, sondern dass der Austausch eher wie eine Art Tagebuch mit Empfänger ist. Und ja, diese Empfängerin kann ich gerne für Sie sein in den nächsten Wochen.

Ihre Gedanken regen mich sehr zum Nachdenken an und ich möchte Ihnen heute gerne in der Reihenfolge Ihrer Nachrichten antworten; ich hoffe Sie sind damit einverstanden.

Gleich zu Beginn Ihrer Nachricht schreiben Sie, dass Sie sich entschlossen haben Ihre Mutter ab April in einem Pflegeheim in Bremen versorgen zu lassen. – Trotz des Wissens darum, dass dies nicht der Wunsch Ihre Mutter ist. Liebe HannaElise, ich finde Ihren Entschluss wirklich gut, denn ich weiß einfach aus meiner Erfahrung hier bei pflegen-und-leben.de, dass irgendwann ein Punkt in der Pflege kommt, da können die Angehörigen diese Aufgabe nicht mehr alleine übernehmen. Jemanden bis zu seinem Lebensende zu begleiten ist eine sehr sehr anstrengenden und verantwortungsvolle Aufgabe, und in meinen Augen ist es gut und fürsorglich, wenn man diese Aufgabe und Verantwortung nicht alleine auf sich nimmt, sondern mit anderen Menschen teilt. Manchmal funktioniert das auch zuhause, wenn viele Familienmitglieder eingebunden sind. Wenn aber nur ein Mensch für die Pflege und Fürsorge verantwortlich ist, so wie das bei Ihnen ja ist, dann finde ich ist der Schritt in ein Pflegeheim genau richtig. Dies bedeutet ja nicht, dass Sie nicht mehr für Ihre Mutter da sind, aber es bedeutet einfach, dass Sie mehr aussuchen können, wann und wie Sie für Ihre Mutter da sein wollen, und auch, dass Sie einfach nicht mehr alleine die Verantwortung für Ihre Mutter tragen. Ich bin fest davon überzeugt, dass man nur dann für einen anderen Menschen da sein kann, wenn es einem selbst auch gut geht, und wenn man auch auf sich aufpasst, dass man bei Kräften bleibt. Wie sehen Sie das?

In Ihrer Mail beschreiben Sie, wie Sie versuchen Ihrer Mutter ein wenig Erleichterung von den Schmerzen zu verschaffen und Sie sich ein wenig wie „Gott spielen“ dabei fühlen. Und Sie schreiben „das nennt man Unterlassung von Hilfeleistung und ist strafbar, und ich wage nicht mehr darüber zu sprechen, weil ich nur in distanzierte Gesichter schaue.“
Als ich dies gelesen habe bin ich sehr nachdenklich geworden, denn ich verstehe Ihren Impuls möglichst das Leiden Ihrer Mutter lindern zu wollen absolut. Aber ich habe mich gefragt, warum Sie diese Verantwortung so alleine tragen? Welchen Grund gibt es für Sie, nicht einen Palliatvimediziner hinzuziehen, mit dem Sie in aller Ruhe besprechen können, welche Maßnahmen für Ihre Mutter gut wären, welche Art der Medikation medizinisch sinnvoll wären, und Sie somit auch aus dem ungesetzlichen Bereich herauskommen?
Da Sie sehr offen mit mir sprechen möchte ich dies auch mit Ihnen, und Ihnen meine Gedanken zu dem Thema Sterbehilfe/und oder unterlassene Hilfeleistung schreiben: Es ist für mich ganz schwierig auf diese Gedanken von Ihnen einzugehen, denn auch ich als Beraterin mache mich strafbar, wenn ich davon wüsste, dass Sie sich strafbar machen und ich nicht einschreite. Und deswegen möchte ich Sie bitten, mir keine Details mehr dazu zu schreiben, denn dies ist der Nachteil der schriftlichen Beratung – alles was Sie mir mitteilen und ich Ihnen antworte steht schwarz auf weiß geschrieben und kann im Zweifelsfalle gegen uns verwendet werden.
Sehr gerne tausche ich mich mit Ihnen darüber aus, was es für Sie bedeutet, Entscheidungen treffen zu müssen und auch diese Verantwortung zu haben. Aber im Detail, über das was Sie tun oder auch nicht tun, können wir uns nicht austauschen. Verstehen Sie mein Dilemma?

Was ich Ihnen aber wirklich empfehlen möchte und was auch mich beruhigen würde wäre, wenn Sie sich Unterstützung durch einen Palliativ-Mediziner suchen würden. Ich glaube, dass es für Sie auch eine Entlastung sein könnte, wenn Sie genau diese Entscheidungen (wann gebe ich wie viele Schmerzmedikamente) nicht alleine und nicht heimlich treffen müssten. Aus diesem Grunde habe ich nun noch einmal für Sie in Osnabrück recherchiert, und habe Folgendes für Sie gefundenl.http://www.hpsos.de/hospiz-und-palliativstuetzpunkt-osnabrueck.html

Liebe HannaElise, wie geht es Ihnen jetzt, nach dem Lesen dieser Zeilen? Ich kann mir vorstellen, dass Sie vielleicht enttäuscht sind, oder sich die Möglichkeiten des Austausches über das Thema Sterbehilfe mit mir erwartet hätten. Ist das so? Und haben Sie trotzdem noch weiterhin Interesse daran mit mir zu kommunizieren?
Ich würde mich darüber freuen!

Und deswegen schreibe ich jetzt einfach mal weiter, meine Gedanken zu Ihren Zeilen. Sie schreiben in Ihrer Mail über das Thema Neuanfang, und wer man ist, wenn man keine Aufgaben mehr im Außen hat. Ja, wer ist man dann, und wann ist man wer? Ich weiß es nicht, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich der Aussage von Laotse zustimmen kann, dass der gut geht, der ohne Spuren geht. Irgendwie denke ich das nicht, ich denke mehr mit Yalom (ich freue mich, dass Sie diesen Autor schon kannten und auch schätzen, ja die Schopenhauer Kur ist wunderbar, was ich noch sehr mag ist das Buch „Die Liebe und ihr Henker“, kennen Sie das auch?), dass mein Leben Sinn macht, wenn ich andere durch mein Sein, mein Leben berühre. Wenn mein „Sein“ Wellen schlägt, wenn ich berührbar bleibe und der andere mit mir. Dies ist, warum ich meinen Beruf so mag. Meine Arbeit, meine Worte und mein Tun schlägt (nicht immer, aber im besten Falle) Wellen bei anderen Menschen. Und Ihrer doch auch, wenn Sie als Clownin und Künstlerin in Kontakt zu anderen Menschen gehen. Wie sehen Sie das?

Ihre Homepage habe ich mir mit Vergnügen angeschaut, und die Vielfalt Ihres Ausdrucks als Clownin war erstaunlich. Warum haben Sie damit aufgehört?

Jetzt bin ich bei Ihrer vorletzten Nachricht von Sonntag angekommen. Ihre Zeilen berühren mich sehr, denn Sie schreiben zu Anfang, wie gut es Ihnen tut, dass ich als Mensch da bin. Ja, das bin ich und gerne auch in den nächsten Wochen.
Und es berührt mich zu lesen, was sich ganz langsam zwischen Ihnen und Ihrer Mutter verändert. Sie schreiben, irgendetwas „schmilzt“ in Ihnen. Obwohl noch kurz vorher Gefühle von Abstand, Entsetzen und vielleicht auch Angst da waren. Ihre Zeilen erinnern mich an die „wildgewordene Herde Pferde“, ja, Ihre Gefühle waren an dem Morgen ganz vielschichtig, - und alle hatten ihre Berechtigung und durften sein. Und dann auf einmal stellte sich ein neues Gefühl ein, ich hatte fast das Gefühl so etwas wie Zärtlichkeit – vielleicht. Und ein erstes Mal die Vorstellung, bei der Mutter sitzen zu können und an ihrem Bett zu wachen. Wie schön, aber wie sehen Sie das? Wie geht es Ihnen mit dieser Veränderung?

Ich freue mich sehr über Ihre letzten Zeilen, dass alles wieder mehr Struktur bekommen hat in Ihrem Leben und ich freue mich auch, dass ich Ihnen dabei eine Hilfe sein konnte.
Für heute bin ich am Ende meiner Mail angekommen, liebe HannaElise ich freue mich wieder von Ihnen zu lesen und wünsche Ihnen bis dahin gute Tage.

Herzliche Grüße
Ihre Kristina



Guten Morgen Kristina, ich nehme Ihr Angebot einfach mal wörtlich und lasse meine Seele schreiben. Es tut gut, ein konkretes Gesicht in meinem Geist zu sehen und mir einen Menschen vorzustellen, auch wenn es nur virtuell ist. Es gibt diesen Menschen wirklich, nämlich Sie. Sie atmen, Sie denken, Sie fühlen, wir stehen in keinerlei persönlichen oder professionellen Verbindungen und Sie antworten ernsthaft und verlässlich einmal in der Woche. Ich erwarte nicht, dass Sie all das lesen, was ich hier von mir gebe. Es ist einfach gut, dass Sie da sind und dass ich weiß, dass Sie sich mir vielleicht noch insgesamt 4 mal zuwenden. Es könnte sein, dass das ein Einstieg in ein ganz persönliches Tagebuch wird.
Nun zum Thema :
Heute morgen, gegen halb fünf ist Mutti auf dem Weg zur Toilette gefallen, das dritte Mal in dieser Woche. Inzwischen ist sie so klein und dünn, dass ich sie fast mühelos hochheben kann. Sie ist völlig durcheinander und aufgeregt. Ich helfe ihr in ihren Kuschelsessel und denke zum tausendsten mal den Gedanken : ich schaff das nicht, ich schaff das nicht, wickele sie in ihre Decken, gebe ihr zwei Schmerztabletten außer Plan, koche ihr frischen Kaffee und flüchte in mein Zimmer. Als ich vorsichtig und etwas unruhig um die Ecke schaue, sitzt sie da und faltet ihre Decken zu kleinen ordentlichen Päckchen. Als das nicht gelingen will, beginnt sie von vorn und ruft dann verzweifelt nach mir. Kurz blitzen meine eigenen Bedürfnisse auf, ich will doch einfach nur ein wenig schlafen. Etwas ungeduldig und ungelenk suche ich nach einer Verbindung zu ihr, mag sie noch so winzig sein. Es gelingt nicht, wir wanken zurück in ihr Bett. Seit Tagen schläft sie nur noch im Sitzen, schreckt unruhig hoch und versinkt wieder erschöpft.
Sie will, das ich bei ihr bleibe, mich zu ihr setze oder gar lege?
Irgendwie entsetzt wehre ich mich, will schlafen, in meinem Bett, renne weg, koche mir einen Kaffee und gehe doch wieder zurück. Zögerlich nehme ich mir den einzigen Stuhl im Raum, er ist immer leer, als warte er auf mich, damit ich mich auch in diese Form von Nähe ergebe.
Sie schaut mich an, schaut mich an und schaut, streichelt vorsichtig mit dem Fingernagel an meinen nackten Beinen entlang. Ich bekomme "goose pimples" (ich liebe dieses Wort, zärtlich gemurmelt klingt es so unerhört intim). Etwas schmilzt in mir. Zum ersten Mal kann ich mir vorstellen, neben ihrem Bett zu wachen, zwischendurch einzunicken und bei ihr zu sein.
Sie schreckt immer wieder hoch, streichelt meine Beine und kichert ein wenig. Irgendwann schläft sie doch ein, ich trinke meine Buttermilch und schreibe dies an Sie.
Es scheint mir wichtig, das auch wirklich abzuschicken, eine fiktive Protagonistin Kristina reicht einfach nicht, noch nicht.
Tief in Gedanken nehme ich Ihr Lausbubengesichtchen in meine Hände, ganz vorsichtig, ich will Sie nicht stören, es ist einfach gut, dass es Sie gibt.
HannaElise



Kristina, heute ist ein seltsamer Tag. Meine Mutter quält sich sehr, manchmal wimmert sie leise vor sich hin und gleichzeitig liegt ein sonniger Frieden in der Luft. Es riecht nach Frühling. Ich kenne diese Tage, der Bürgersteig sauber geharkt. Opa trug seine Sonntagsweste und Mutti erlaubte sich ein Mittagsschläfchen mit dem Kopf auf dem Tisch. Mehr war nicht drin.
Ich habe heute Zeit gehabt, mich noch einmal mit Ihren Antworten zu beschäftigen. Es gilt, ein Missverständnis aufzuklären Bei uns in Bremen gibt es eine vorbildliche Hospiz - und Palliativszene.
Ich habe dort selbst eine fundierte Hospizausbildung gemacht und außerdem ein halbes Palliativ Care - Studium an der Uni Bremen absolviert. (Nur ein halbes, ich hätte gerne bereits im Studium dem kreativ - künstlerischen Aspekt in der Pflege der Demenzkranken zu mehr Gewicht verholfen. Leider ist es mir damals nicht gelungen. Ich glaube, heute findet die Kreativität mehr Beachtung, in Hamburg gibt es bereits ein Studium, glaube ich.)
Seit einigen Monaten bin ich aber in Osnabrück, denn dort wohnt meine Mutter. Und, erstens kenne ich mich hier nicht gut aus und die Hilfsmöglichkeiten sind außerdem leider sehr begrenzt. So kann ich Ihre Recherchen zwar schätzen, aber nicht nutzen.
Ich glaube, das ich Ihre sonstigen Fragen und Anregungen in der einen oder anderen Weise beantwortet habe.
Aber ich bin nun ernsthaft entschlossen, das Pflegeangebot zum 1. April in Bremen anzunehmen und die Verantwortung mit Fachkräften zu teilen. Mutter hat in ihren " Hochzeiten" ( nicht Hochzeiten = Heiraten) den Pflegedienst rausgeschmissen, sämtlich Angebote vehement abgelehnt und wollte nur Hanna, Hanna, Hanna und es sei meine Pflicht, für sie zu sorgen. Diese Forderungen sind kein
Demenzsymptom oder jedenfalls nur zum Teil. Als Teil von ihr hatte ich schon immer zur Verfügung zu stehen.
Gleichwohl ist sie, wie sie ist und ich bin, wie ich bin. Es ist zu diesem Thema freundlicher Gleichmut in mir.
Gut informiert zu sein und mit allen Sinnen zu leben schützt nicht vor "Bergen", die zu bewältigen fast unüberwindlich scheinen. Im Gegenteil, um ein weiteres Klischee zu bedienen, ich habe in den letzten Wochen den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen.
Nun merke ich, es bekommt alles wieder Struktur, die Sie wesentlich mit zu verantworten haben.
Aber drei oder vier Mal habe ich Sie ja noch, die möchte ich dringend nutzen und freu" mich auf Ihre nächsten Impulse.
A guats Nächtle
Hanna


Liebe HannaElise,

vielen Dank für Ihre Zeilen. Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie mir antworten, nachdem ich Ihnen in meiner letzten Mail meine Beschränkung im Austausch mit Ihnen geschrieben habe.
Es beruhigt mich zu wissen, dass Ihre Mutter von einem Haus- und Palliativarzt versorgt wird. Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass Sie nicht die Unterstützung und Hilfe bekommen, die für Sie und Ihre Mutter gut wären, und das ist natürlich nicht so, wie ich es für Sie wünsche. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, den Hausarzt zu wechseln? Oder ist dies jetzt alles zu aufwendig, und ist es jetzt nur noch wichtig, zu schauen, wie Sie die Zeit bis 31. April überbrücken können?

Ja, Sie haben Recht, ich glaube auch, dass viele pflegende Angehörige das Thema Sterbehilfe beschäftigt, und deshalb stimme ich Ihnen zu, das Thema sollte empathisch in der Öffentlichkeit diskutiert werden, mit Angehörigen, mit Schwer- und Sterbenskranken, mit Ärzten und Therapeuten. Und es sollten Wege gefunden werden, mit denen alle Menschen leben (und auch sterben) können, auf die Art und Weise, wie sie es wollen und für richtig halten. Bis dahin ist es aber glaube ich noch ein langer Weg.
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, vielleicht in dieser Richtung selbst aktiv zu werden? Sich in einem Verband zu engagieren, oder auch mit anderen pflegenden Angehörigen über dieses Thema zu sprechen? Wäre das etwas für Sie?
Gleichzeitig schreiben Sie aber ja auch, dass Sie sich eher von der Welt zurückziehen, Ballast abwerfen, sich sortieren. Vielleicht ist da eine Wendung nach außen auch nicht das Richtige. Wie sehen Sie das?

Sie schreiben, dass Sie Laotse in diesem Sinne verstehen, dass Ballast abwerfen, sich achtungsvoll verabschieden bedeutet, dass die Spuren flacher werden, und Sie schweben können. Ja, so habe ich das noch nicht betrachtet. Das ist ja ein Gedanke, der mehr vom Ende des Lebens auf den Abschied schaut. Sehen Sie das auch so? Bisher habe ich mein Leben immer von der Mitte des Lebens betrachtet, nicht in der Vorbereitung auf den Tod. Wenn ich mich aber auf Ihren Gedanken einlasse, dann ist das Bild von den flacheren Spuren eine schöne Vorstellung. Das Leben achtungsvoll verabschieden, die Dinge gut erledigen, alles hinter sich lassen - in diesem Satz liegt viel Frieden.

Ich freue mich, dass für Sie die Bücher von Yalom eine Bereicherung sind. Für mich auch, immer wieder lese ich sie und finde darin Anregungen für mich und meine Arbeit.

Sie fragen in Ihrer Mail, ob ich mich bedrängt gefühlt habe, von der Liebe und Zärtlichkeit, die zu mir herübergeschwappt ist. Nein, das habe ich nicht, ich habe aber bemerkt, dass Sie sehr berührt, durchlässig und voller Liebe und Zärtlichkeit waren, das ist bei mir angekommen. Und das ist doch gut. Das zeigt doch auch, was ohne Gestik, Mimik und sich sehen über ein „Brief“ transportiert werden kann.

Am Ende Ihre Mail schreiben Sie, dass sich Ihre Welt wieder aus dem kreativen Chaos herausschält und auch Ihr Humor wieder Platz gefunden hat. Wie toll! Das freut mich wirklich sehr.
Und Sie fragen, ob wir uns trotzdem noch ein paar Mal schreiben können, auch wenn Sie jetzt ohne meine Hilfe klar kommen. Sehr gerne können wir das machen, allerdings ist es so, dass ich Ende nächster Woche für zwei Wochen in den Urlaub gehe. Damit entsteht dann eine Pause, und vielleicht können wir diese ja auch als „natürliches Ende“ unseres Kontaktes ansehen. Was denken Sie? Wäre das für Sie in Ordnung, wenn Sie noch eine Nachricht von mir nächste Woche bekommen, in der ich mich von Ihnen verabschiede?

Ich freue mich wieder von Ihnen zu lesen und wünsche Ihnen eine gute Woche,
mit herzlichen Grüßen,
Ihre Kristina



Liebe Kristina,
zunächst wieder einen lieben Dank für Ihre Antwort.

Die Gemeinschaftspraxis von Mutters Hausärztin und ihrem Ehemann ist eine Praxis mit Zusatzqualifikation der Palliativversorgung. Als Angehörige bekomme ich wenig bis keine Informationen, außer Anweisungen. Meine Mutter ist dort meines Erachtens verantwortungsvoll versorgt. Ist die Schmerzmedikation zu gering, ist der Kontakt zum Arzt nach meinem Empfinden zu weit weg. Sie haben eben zuerst eine ganz normale Hausarztpraxis und sehr viel zu tun. Es wird dort für uns schon Vieles möglich gemacht und ich bin sehr zufrieden, nur für mich als absoluten Laien reicht das nicht aus. Ich suche mir Antworten im Internet und halte das für ein wenig fragwürdig. Für die Anlaufstelle, die Sie mir freundlicherweise rausgesucht haben, brauche ich eine Bescheinigung vom Arzt, damit sie tätig werden können. Ein Attest, dass meine Mutter vermutlich innerhalb der nächsten 6 Monate stirbt, bekomme ich nicht.

Meine Freunde leben alle in Bremen, wir telefonieren also nur. Ich bin kein einsamer Mensch, vielleicht ein lonesome rider, aber damit fühle ich mich wohl.

Das letzte Wochenende waren Tage der Liebe und Zärtlichkeiten, davon ist einiges zu Ihnen hinübergeschwappt. Ich hoffe, Sie haben sich nicht bedrängt gefühlt, immerhin kennen wir uns ja gar nicht.
Seit vielen Jahren bin ich "leidenschaftliche (nicht radikale) Humanistin". Diese neuerliche "Sterbehilfedebatte" ist für mich absurd. Ich respektiere jede persönliche Meinung dazu, aber der Staat hat kein Recht, mir mein selbstbestimmtes Sterben wegzunehmen. Es gibt klügere und weisere Menschen als mich, die das genau so sehen. Ich schreibe diese Sätze in vollem Bewusstsein meiner Verantwortung.
Das hat jedoch nichts mit meiner Mutter und meinen Unsicherheiten bei der Medikation zu tun. Und Ihrem Rat folgend lassen wir das also. Aber eine Bemerkung dazu hänge ich doch noch an: Für viele pflegende Angehörige ist das eins der wichtigsten Themen, allerdings heimlich. Wäre es nicht hilfreicher, dazu ausführlich und empathisch in der Öffentlichkeit zu diskutieren, statt uns zu bevormunden? (Na ja, die Öffentlichkeit ist nicht empathisch, war sie es je?)
Gut, Schluss.

Die Bücher von Yalom, die Sie mir empfohlen haben, sind eine große Bereicherung. Ich finde mich in vielen Stellen wieder und gesehen. Ich weiß gar nicht genau, warum mir dieser Autor aus dem Blickfeld geraten ist, aber "jetzt ist er dran, gnadenlos einverleibt zu werden".(lach)
Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Gesicht blicken Vielleicht ist es aber gut hinzuhören, den Duft zu erhaschen, manchmal auch den Gestank zu ertragen oder einfach zu spüren, wenn alles still summt in der brütende Hitze, das Kitzeln der Fliegenbeinchen auf der Haut fühlt und....und...den Atemzug. Ist er der vorletzte, der letzte? Niemand weiß es.

Deshalb habe ich mich aus der Öffentlichkeit weitgehend zurückgezogen. Viele Menschen lernte ich kennen, besonders als Clownin begegneten mir die absurdesten Situation. Das Gefühl, reich zu sein, ist in mir tief verankert.

Genau das ist der Grund, warum ich aufgehört habe. Seit einigen Monaten betrachte ich meine Schätze, bringe einiges zu Papier und übe mich im Loslassen. Ich finde, es ist für mich an der Zeit, damit anzufangen und mich zu fragen, was nicht mehr wichtig ist.

Es scheint mir, mein Entschluss, mich Ihnen anzuvertrauen, war im Hinblick darauf, was ich mit meiner Mutter hautnah erlebe, eine existenzielle Krise, die natürlich auch mit Ängsten verbunden war. Diese Erkenntnis, dass Mutters Tod nur einen Schritt weit von meinem entfernt ist, bestürzte mich. So verstehe ich Laotse, je mehr Ballast ich abwerfe, um so leichter wird mein Schritt und die Spuren, die dieser hinterläßt werden immer flacher. Der Gedanke, alles hinter mir gelassen und achtungsvoll verabschiedet zu haben, läßt mich "schweben" (lach).

Mein Ruheplatz ist im Friedwald, dort werde ich zu einer dicken, dottergelben Butterblume, werde von einer Kuh genüsslich zermalmt und bin wieder mitten im Lebenskreislauf drin.

Es gibt nur einen kleinen Haken, wie immer beim Philosophieren, Kühe halten sich nicht im Wald auf.....

Sie sehen und lesen,liebe Kristina, meine Welt schält sich aus dem kreativen Chaos langsam heraus, der Humor hat seinen Platz wieder eingenommen und der Alltag geht weiter, bis zum 31. April.

Dann sehen wir weiter.

Es scheint, ich komme ohne Ihre Hilfe jetzt weiter klar, können wir uns trotzdem noch ein paar Mal schreiben?

Liebe Grüße

HannaElise


Liebe Kristina,
nun siedelt meine Mutter morgen schon um. Ich bin erleichtert, aber auch traurig und in Eile,wie Sie sich vorstellen können.
Von Herzen wünsche ich Ihnen einen schönen Urlaub.
Und ganz herzlichen Dank, dass Sie mich ein Stück meines Wegs begleitet haben.
Gerne denke ich an Sie und alles Gute auch für Sie.
HannaElise


Liebe HannaElise,

der Umzug ging jetzt aber schnell! Sehr gut kann ich mir vorstellen, dass Sie letzte Woche sehr in Eile gewesen sind. Sehr viel muss dabei ja erledigt werden, und nicht zu vergessen die Betreuung Ihrer Mutter. Und ja, ich kann mir auch vorstellen, dass Sie gleichzeitig erleichtert und auch traurig waren und vielleicht auch noch sind. Denn der Umzug in ein Heim ist ja auch ein weiterer Abschied, ein Abschied aus der Wohnung Ihrer Mutter, und ein nächste Stufe hin zum Ende des Lebens.
Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie mit der Entscheidung gut leben können. Ich glaube, dass Sie genau das richtige getan haben.

Vielen Dank für Ihre lieben Wünsche, sehr gerne habe ich Sie ein Stück Ihres Weges begleitet, es war auch für mich eine spannende und bereichernde Kommunikation.
Jetzt wünsche ich Ihnen alles alles Gute für Ihren weiteren Weg und verbleibe mit herzlichen Grüßen,

Ihre Kristina


Liebe Kristina,
erinnern Sie sich noch?
Sie und ich sind uns gegenseitig für eine "kurze Weile lang" ins Netz gegangen.
Meine Mutter ist nach vier Wochen Heimaufenthalt, einer Beinamputation, einer Isolation wegen des Krankenhauskeims, zwei Transfusionen wegen starkem Blutverlust bei einer erst nach Stunden entdeckten geplatzten Krampfader,mehreren Dilirien, weil die Schmerzmedikation nicht korrekt ausgeführt wurde, einer schweren Allergie durch dieselbe, die immer wieder aufloderte, weil sie nicht als Allergie erkannt wurde. Ist das genug?

Es gab eine Bestattung ohne Gott, in strahlendem Sonnenschein, mit Luftballons, mit einer eigenen Abschiedsrede, die vermutlich in Tränen erstickt wäre, wenn die Hand meiner Freundin nicht meinen Rücken gestärkt hätte und einem Papierschiffchen neben der Urne, dass sie sicher über den Hades brachte.

Es gab vier Wochen später eine Gedenkfeier, keine Trauerfeier mit Filterkaffee und Zuckerkuchen, Schnaps und dumpfem Gemurmel.
Meine Söhne zeigten einen humorvollen Videoclip, den sie selbst über die Oma gedreht hatten, Geschichten wurden erzählt und Fotos herumgereicht. So durfte ich meine Mutter noch einmal aus völlig überraschenden Perspektiven erleben. Auch die Kritiker/innen kamen zu Wort und warfen mir diese unorthodoxe Bestattungsrituale vor.
Jetzt bin ich aktives Mitglied der DGHS, der Gesellschaft für humanes Sterben und nehme das sehr ernst, bis hin zum selbstbestimmten Sterben. Für alte Menschen bietet sich da das Sterbefasten an.
Ich weiß, das Sie dazu keine Stellung nehmen dürfen, aber für mich ist es wichtig, klar und offen damit umzugehen, auch bei Ihnen, die ich als einfühlsame und mitfühlende Frau "kennenlernen" durfte.
Ich erlebe jetzt eine glückliche und zufriedene Zeit. Vom Keller bis zum Dachboden(lach) ist alles aufgeräumt, jetzt "schmeiße" ich mich in die Gesellschaft der reflektierten Alten, leider gibt es viel zu wenig davon.
Manchmal schäme ich mich ein bisschen, weil wir Senioren viel zu wenig und nicht nachhaltig genug für Sie, liebe Kristina und natürlich für unsere Kinder und Enkel tun.
Ich wünsche Ihnen nun alles Gute, jede von uns geht ihren eigenen Weg, aber wer weiß?
Sie waren ein wichtiges "Legosteinchen" in meinem Baukasten, jetzt baue ich Luftschlösser aus
Wind und Atem und aus Lachen über diese absurde Welt. Und Sie?
Ich brauche keine Antwort, ich weiß, dass Sie auch fliegen können.
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